Danke für die Depression!

Jemand, der oder die, meine Überschrift liest und sich womöglich gerade in tiefer Depression befindet, denkt vermutlich, dass ich spinne….

Aber mir ging in diesen Tagen durch den Kopf, dass es jetzt fast genau 10 Jahre her ist, dass ich wegen meiner Erkrankung aus dem Berufsleben ausgeschieden bin. Ich hatte schon eine Teil-Rente, aber selbst die Belastung mit dem 5-Stunden-Job in einem im Vergleich zu meinen vielen Jahren im Suchtbereich eigentlich ziemlich entspannten Arbeitsbereich, erwies sich als zu anstrengend und ich rutschte wieder in eine depressive Phase ab. Ich ging dann noch einmal in eine Reha, in der ich auch ein paar wesentliche therapeutische Erkenntnisse hatte, die zu meinem inneren Frieden sehr beigetragen haben. Und eine große Verbesserung in der Beziehung zu meinen Eltern brachten. In der man mir dann aber auch ganz dringend die volle Rente empfahl und mir auf den Kopf zusagte, dass meine Depression eine schwere sei (und das war definitiv nicht meine schlimmste Phase).

Einerseits war ich total erleichtert, dass mein Leiden gesehen wurde – andererseits war es aber doch irgendwie ein Schock, dass ich nun so ganz aus dem Beruf ausscheiden sollte. Denn mein ganzes Erwachsenenleben war die Arbeit extrem wichtig für mich. Vor allem wohl für mein Selbstbild und meinen gefühlten „Lebensberechtigungsschein“.

Und jetzt kommt, wofür ich dankbar bin: Dass mich die Depression gezwungen hat, diese Einstellung zu überdenken! Dass sie mich entschleunigt hat, so dass ich nicht mehr mithalten konnte mit dem ganzen Alltagstempo – ausgerechnet ich, die in „guten“ Zeiten immer das größte Klavier alleine tragen wollte. Immer mehr schaffen wollte als andere und möglichst auch noch besser.

Ich musste an meinem Selbstbild arbeiten. Besser gesagt: ich musste meine Illusionen über mich zerstören. Wurde zurückgeworfen auf das was ich wirklich bin. Und das ist ein Mensch, der einen anderen Daseinszweck hat, als nur immer zu arbeiten. Was nicht bedeutet, untätig zu sein. Aber eben nicht mehr den eigenen Wert davon abhängig zu machen, wie viel man arbeitet, oder wie gut man seinen Job macht.

Die Entschleunigung ist eine wunderbare Sache – natürlich wenn man wie ich den Luxus genießt, noch eine auskömmliche Rente zu beziehen. Früher bin ich in „gesunden“ Zeiten durch meinen Tag gerast. Ich hatte zeitweilig einen Vollzeitjob, einen Nebenjob, der mich auch noch gut mal bis zu 10 Stunden in der Woche gekostet hat und bin noch dreimal wöchentlich stundenlang im Fitnessstudio rumgetobt. Und natürlich hab ich auch noch meinen Sohn groß gezogen und Partnerschaft gelebt.

Solche oder ähnliche Phasen sind dann öfters mal in totaler Erschöpfung geendet und dann ging wochen- oder monatelang praktisch nichts mehr. Es gab Zeiten, da lag ich stundenlang wie festgeklebt im Bett und hatte Durst, war aber nicht in der Lage aufzustehen und mir etwas zu trinken zu holen. Wer es nicht erlebt hat, kann sich das kaum vorstellen. Körperlich gibt es keinen Grund für diesen Zustand, jedenfalls keinen sichtbaren. Und doch ist es Realität: es geht einfach nicht!

Bild von Ulrike Mai auf Pixabay

Nebenbei: auch ich habe die Erfahrung gemacht, dass andere Menschen das gar nicht verstehen können. Und bis ich mir darüber klar wurde, was mit mir los ist, konnte ich es ihnen auch nicht erklären. Wenn in solchen Zeiten einem Faulheit vorgeworfen wird, ist das nicht hilfreich, liebe Angehörige und Freunde!

Also, solche Wechsel gab es mehrfach in meinem Leben. Bis ich es endlich kapieren musste. Und damit ich nicht „rückfällig“ werde, ist die Entschleunigung geblieben. Heute könnte ich gar nicht mehr wie früher, selbst wenn ich wollte.

Deshalb bin ich Rentnerin. Und mit mir inzwischen weitgehend im Reinen. Die Bereiche in denen das nicht so ist, haben mit Arbeit und Leistung nichts zu tun. Langweilig ist mir übrigens nicht. Im Gegenteil. Ich hab ein paar Minijobs probiert, u.a. war ich Kurierfahrerin in Bayern. Das war lustig: als Kopftuch tragende Muslima über die bayrischen Dörfer sausen und irgendwelche Teile in kleinen Baufirmen abgeben – ich mag es ja, die Leute ein wenig zu verwirren.

Als ich vor vier Jahren aus Bayern weggezogen bin, hab ich das aufgegeben und bald danach angefangen mit meiner jetzigen Tätigkeit, die ich von zu Hause aus machen kann. Diese Minijobs haben ganz und gar andere Themen, als ich in meinem langen Berufsleben in der psychiatrischen Pflege hatte. Jetzt mache ich Recherchen, schreibe Artikel und pflege die Social-Media für eine kleine Firma. Mein Horizont hat sich sehr erweitert über meine früheren beruflichen Themen hinaus. Weil mir aber auch hier ein voller Minijob zu viel wurde, hab ich jetzt nur noch eine Mini-Mini-Tätigkeit und das geht gerade so. Es ist nicht ohne Grund so, dass man bei einer vollen Erwerbsminderungsrente täglich nur unter drei Stunden arbeiten darf! Bei mir ist es auf jeden Fall zu viel, wenn ich mehr als zwei Stunden täglich konzentriert sein soll. Und selbst in dieser Zeit brauche ich immer mal kurze Pausen. Die ich mir ja unter diesen Umständen auch nehmen kann.

Ich brauche sehr viel Freiraum. Kann je nach Tagesform meinen Ablauf gestalten. Ich genieße es, am Meer zu spazieren, oder ein bisschen im Hinterland zu wandern. Ich mag lesen, interessiere mich für Politik und Weltgeschehen, bin im Internet unterwegs – spielend, diskutierend, lernend. Versuche immer mal wieder mein Türkisch zu verbessern und bin auch gerne mal unter Menschen. Ich schreibe gerne und hab meine kreativen Phasen. Und wenn es mir zu viel wird, kann ich es wieder ruhig angehen lassen. Und einfach genießen, dass der Druck raus ist. Sogar die Hausarbeit kann so etwas Meditatives sein.

Darum bin ich dankbar für die Depression. Sie ist und war eine harte Schule und ich hab ein paar Klassen wiederholen müssen, d.h. mehrere schwere Phasen durchleben müssen, bis ich erkannt habe, dass meine Aufgabe in diesem Leben nicht „Selbstaufgabe“ heißt. Dass ich Grenzen habe, die ich respektieren muss. Und dass mein Wert, auch für meine Mitmenschen, nicht davon abhängt, wie leistungsfähig ich bin!

Es gab noch ein paar andere Lernthemen in diesem Zusammenhang. Z.B. über Geld und Existenzängste. Oder das Streben nach Unabhängigkeit (eine Illusion, wie ich heute weiß). Über Vertrauen und Hoffnung. Das sind vielleicht Themen für einen anderen Blog, sonst wird das heute zu viel.

Ich danke meinem Schöpfer für SEINE Geduld mit mir, für die Chancen die ich bekommen habe und immer wieder bekomme, für die Zeit die mir geschenkt wurde, für die Erkenntnisse, die ich gewonnen habe. Für die vielen Jahre befriedigender Arbeit und für die jetzigen im Ruhestand.

Und ich erzähle Euch das, damit diejenigen die gerade mit dieser Krankheit kämpfen vielleicht eine Ahnung davon bekommen, dass sich da eine oder mehrere Lernaufgaben verbergen und dass das Leiden nicht ohne Sinn ist. Und für die Angehörigen und Freunde zu einem vielleicht besseren Verständnis dafür, was sich hinter dieser von außen nicht sichtbaren Krankheit so verbergen kann!

Ein Bild zum Thema Dankbarkeit

Wie meine Krankheitsgeschichte verlaufen ist, kann man hier nachlesen: Depression – meine Geschichte